Prolit Promotionsstudiengang "Literaturwissenschaft"
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Concetta Perdichizzi

Das Paradox der Dekadenz. Der Einzelne und die Masse bei Gabriele D'Annunzio und Hugo von Hofmannsthal

München, 2017


In Die schöne Décadence versteht Roger Bauer das Sakrale und das Heroische als Prozesse der literarischen Dekadenz und nimmt sich vor, die beiden Begriffe diachronisch zu untersuchen. Ich erforsche hingegen das Sakrale und das Heroische synchronisch anhand der Werke D’Annunzios und Hofmannsthal.
Diese zwei Matrizes sehe ich als Zuspitzung von Bobbios Begriffen der Kontemplation und des Aktionismus (La filosofia del decadentismo), in denen er einen gemeinsamen Kern sieht: Die Gründe für die Abgrenzung des Individuums von der Masse könnten als Gründe für die Ablehnung desselben gegenüber der Masse gesehen werden. Dekadenz ist ihm zufolge Aktionismus in potentia.
Den gemeinsamen Kern verorte ich außerdem innerhalb einer Körpermetapher, die im 20. Jahrhundert zur Veranschaulichung für die Dekadenz und für die Bezeichnung des Individuums in der Masse gewählt worden ist. Bourget definiert z. B. Dekadenz als einen Körper, in dem die Zellen nicht mehr für das Ganze arbeiten, während Le Bon die Masse als einen Körper beschreibt, in dem die Konstituenten ihre Vielfältigkeit verloren haben und für die Ökonomie des Ganzen arbeiten.
Die Abgrenzung des Individuums von der Masse wird nun als Ausübung der Existenz gelesen bzw. als Sakralisierungsprozess, der die Voraussetzung für eine neue Subjekt-Konstitution ist; das Ich entwickelt in der Abgrenzung vom Ganzen seine eigene „Mystik der Nerven“, damit es bei seiner Hingebung zur Masse als Held performativ Charisma ausstrahlen kann, das als neuer Magnet oder identifikationsstiftende Instanz für die Umformung des Massenkörpers in den Volkskörper dient; der Mystizismus des Volks als Körper (bzw. als corpus mystikum im Sinne Kantorowiczs) muss erstmal vom literarischen bzw. politischen „Führer“ neu vermittelt werden: Der Ästhet wird zum (Ver-)führer.
Dieser Umstand bedeutet aber keinen Bruch, sondern eine Kontinuität, die durch die Werke der benannten Autoren aufgezeigt werden soll.


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