Prolit Promotionsstudiengang "Literaturwissenschaft"
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Carina Breidenbach

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Angst und narrative Struktur in Erzähltexten des 20. und 21. Jahrhunderts

Angst ist im 20. und 21. Jahrhundert immer wieder als Signatur einer von Transzendenzverlust und Kontingenzerfahrung gekennzeichneten, spezifisch modernen conditio humana betrachtet worden und stellt in ihren verschiedenen Erscheinungsformen eines der Leitmotive moderner und postmoderner Literatur dar. Das Dissertationsprojekt fragt nach dem Verhältnis von Angst und modernem Erzählen bzw. nach der „Erzählbarkeit“ von Angst. Angst wird damit nicht lediglich als inhaltlich verhandeltes Thema, sondern vor allem als textuell evoziertes Phänomen betrachtet. Im Fokus stehen dabei narrative Strukturen, insbesondere der plot als ordnendes Strukturprinzip.
Für die Untersuchung ist die in der Existenzphilosophie bei Kierkegaard, Heidegger und Sartre etablierte Unterscheidung von Angst und Furcht heuristisch wertvoll, da sie von einer strukturellen Verschiedenheit zwischen Angst und Furcht ausgeht. Während die Furcht sich auf ein bestimmtes, lokalisierbares Furcht-Objekt richtet und durch Flucht oder Entfernung dieses Objekts aufgehoben werden kann, lässt sich im Fall der Angst geradezu eine Anti-Struktur beobachten: Die Angst hat kein intentionales Objekt und damit auch keine räumliche Ausrichtung (die Bedrohung kommt im Fall der Angst gleichsam von ‚überall’ und ‚nirgendwo’), wodurch sie sich auch einfachen Möglichkeiten der Auflösung entzieht. Laut Blumenberg kann die Bewältigung der Angst letztlich nur durch eine „Rationalisierung“ zur Furcht gelingen, die auf einer „Supposition des Vertrauten für das Unvertraute“ beruht (Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979, S. 11). Kafkas Erzählung Der Bau kann in diesem Sinne als scheiternder Versuch einer Reduktion von Angst zu Furcht gelesen werden.
Die konstitutive Unbestimmtheit der Angst macht sie zu einem Gegenstand, dessen Darstellungen immer wieder auch die Grenzen der Darstellbarkeit verhandeln. Viele der in diesem Projekt untersuchten Angst-Texte reflektieren autoreferentiell das Scheitern von Symbolisierungsversuchen und die Irritation bzw. Blockade von vertrauten Sinnzuschreibungsmustern. Unheimlich wirkt in einigen Texten die Inszenierung eines Bedeutungsentzugs (z.B. in den Romanen Kafkas), in anderen gerade die eines Bedeutungsüberschusses (z.B. bei Pynchon). Eine anhand exemplarischer Lektüren zu überprüfende Ausgangsthese lautet, dass sich Angst (im Gegensatz zur Furcht) als struktur(zer)störendes Moment einfachen Formen der narrativen Bindung und Auflösung widersetzt und in modernen und postmodernen Angst-Texten entsprechend Tendenzen zur Desintegration stabiler narrativer Strukturen zu beobachten sind, die von extremer Reduktion und Abstraktion bis hin zur Bildung paranoider Textlabyrinthe reichen.

Exemplarische Lektüren: Rilke – Malte Laurids Brigge (1910); Stefan Zweig – Angst (1912); Arthur Schnitzler – Flucht in die Finsternis (1931); Döblin – Berlin Alexanderplatz (1929); Kafka – Der Prozess (1925), Das Schloß (1926), Der Bau (1931); Beckett – Molloy, Malone meurt, L’innominable (1951/1953); Thomas Pynchon – The Crying of Lot 49 (1965); Don de Lillo – White Noise (1985); Jonathan Franzen – The Corrections (2001); Peter Henning – Die Ängstlichen (2009); Mark Z. Danielewski – House of Leaves (2000).