Prolit Promotionsstudiengang "Literaturwissenschaft"
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Das Unbewusste in der Literatur des deutschsprachigen Realismus

Im 19. Jahrhundert bildet sich, kulminierend in der Psychoanalyse Freuds, die Vorstellung eines individuellen psychischen Unbewussten heraus. Damit verbunden sind grundlegende Veränderungen im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zum Anderen, zu Natur und Gesellschaft, zu Wissen und Wissenschaft sowie zur Realität. Die Literatur von der Romantik bis zur Frühen Moderne partizipiert an diesem Prozess und reflektiert ihn zugleich. Gleichwohl wird die deutschsprachige Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte, der Realismus, mit Verweis auf eine bürgerliche ‚liberale Anthropologie‘ und eine damit verbundene Grenzziehungs-Poetik meist ausgelassen. Tatsächlich lassen sich aber durchaus signifikante Beispiele von literarischen Inszenierungen der neu- und fremdartigen Erfahrung des Unbewussten in der Literatur des deutschsprachigen Realismus finden.
Diesen geht das Projekt auf der Basis einer wissenschaftshistorischen Rekonstruktion des diskursgeschichtlichen Kontexts, bei dem auch komparatistische Seitenblicke geleistet werden, anhand exemplarischer Textanalysen nach: Unter Verwendung ausgewählter methodisch-theoretischer Studien (Waldenfels, Böhme / Böhme, Foucault, Rancière) stehen dabei Erzählungen Suttners, Storms, Ludwigs, Meyers, Heyses und Fontanes im Fokus, deren textsemiotische und diskurshistorische Lektüren durch einen breiten Fundus weiterer Texte angereichert werden. Dabei wird die Spur des Unbewussten auf drei Wegen verfolgt: wissensgeschichtlich bzw. psychologisch-anthropologisch, soziohistorisch und poetologisch. Auf diese Weise kann gezeigt werden, dass die (literarische) Produktion (von Erfahrungen) des Unbewussten im Realismus nicht nur die bürgerlich-ratiozentrische Subjektvorstellung revolutioniert, sondern als – produktiv verstandene – ‚Störung‘ auch die bürgerlich-realistische „Weltanschauung“ (v. Hartmann) durchbricht und problematisiert: So bewirkt sie tiefgreifende moderne Umbrüche in sozialen (Sub-)Systemen sowie Welt- und Wirklichkeitsordnungen, fördert neuartige literarische Text- und Erzählverfahren zutage und erzwingt somit eine veränderte – dynamischere – Auffassung des deutschsprachigen Realismus. Demnach ‚weiß‘ die realistische Literatur von einem Unbewussten, reflektiert es in ihren – teils verheerenden – (Aus-)Wirkungen und ist damit durchaus an der diskursiven Konstruktion eines Unbewussten beteiligt. In diesem Sinne schärft dieses Projekt nicht nur unser Bild der Zeit des Realismus und leistet einen Beitrag zur Entwicklung der durch Freud etablierten und noch heute dominierenden Menschen- und Wirklichkeitsbilder, sondern entfaltet auch Dimensionen eines möglichen Umgangs mit dem ‚Fremden (in uns)‘.