Dionysos-Konstellationen in der Literatur der Goethezeit
Mit dem Verweis auf ein Phänomen, das er mit dem Begriff des Dionysischen bezeichnete, glaubte Friedrich Nietzsche das Verständnis der antiken Kunst um ein rauschhaft-orgiastisches Moment vervollständigt zu haben. Auch schon im Spätwerk von Nietzsches Lieblingsdichter Hölderlin sowie in den romantischen Mythentheorien von Friedrich Creuzer und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling sind frühe, bedeutsame Reformulierungen des Dionysos-Mythos zu finden, die bestimmte Aspekte der Gottheit ans Licht gebracht und zur Vorgeschichte von Nietzsches berühmter Konzeption beigetragen haben. Zugleich ist es nicht einfach zu bestimmen, was als dionysisch gezählt werden soll. Die von Nietzsches Hypothese vom Doppelcharakter der griechischen Kunst beeinflusste Forschung verzeichnet sämtliche neuzeitliche Bezugnahmen auf die vielen Figurationen des Dionysos allzu oft als Repräsentationen des Dionysischen, obwohl dahinter offensichtlich die Absicht steckt, das Wesen des antiken Gottes im Allgemeinen zu bezeichnen.
Das Dissertationsprojekt will einen Beitrag zum Verständnis der Rezeption der vielgestaltigen Gottheit in der Literatur der Goethezeit (1770–1830) leisten und die sich in dieser Epoche konturierenden wissensgeschichtlichen Konstellationen beleuchten, denen sich die Forschung bislang nicht eingehend zuwandte. Mit Blick auf den vermeintlich monolithischen Charakter des Klassizismus werden dabei Strategien systematisiert, mit denen Dionysos verharmlost oder aus dem Bild der griechischen Antike ausgeklammert wurde. Vor allem wird jedoch untersucht, wie der Rauschgott, dem im Anschluss an die bagatellisierende anakreontische Tradition noch das Etikett des fröhlichen Weinspenders Bacchus anhaftete, durch subtile Inszenierungen und mit kontinuierlicher Konsequenz Einzug in die Literatur der Goethezeit hielt und sich zum Exponenten einer subversiven Sprengung des klassizistischen Antikebildes und des vernunftorientierten Denkens entwickelte. Die Untersuchung widmet sich der Rezeption der einzelnen Figurationen des Dionysos und legt besonderes Augenmerk auf latente und metonymische Bezugnahmen auf verschiedene Quellen. Somit rücken goethezeitliche Texte in den Blick, die den Gott bzw. seine Erscheinungen offen affirmieren, aber auch solche, in denen Rausch, Traum, orgiastischer Exzess, Wahnsinn, Streben nach gottgleicher Erkenntnis, ekstatischer Ich-Verlust sowie Androgynie verhandelt werden und als Projektionsbereiche für die sich im Verborgenen entfaltende Wirkmächtigkeit des Dionysos fungieren.